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Ist das Selbst eine Illusion?

Ein Diskurs zu unterschiedlichen Positionen (2015)

Auf meinem Weg hatte mich irgendwann auch die Advaita-Vedanta-Lehre stark angezogen. Sie geht davon aus, dass das Leiden daher rührt, dass wir uns irrtümlicherweise mit unserem Ich-Gedanken identifizieren und so ein falsches Selbstbild konstruieren würden. Ich fand diese „Philosophie der Nicht-Selbstheit“ in sich so schlüssig, dass ich sieben Jahre lang davon überzeugt war. Als ich mein Missverständnis erkannte, dauerte es wiederum einige Jahre, um zu einem anderen Weltbild, Selbstverständnis und auch Sein zu gelangen, in dem das individuelle Selbst mit spiritueller Tiefe vereinbar ist. Im Folgenden fasse ich meine Schlussfolgerungen zusammen.

Zuvor will ich noch darauf hinweisen, dass sich meine Kritik nicht auf spirituelle Lehrerinnen oder Lehrer bezieht, sondern auf ein bestimmtes Weltbild mit den unten angeführten Merkmalen.

„An den nächsten Wochenenden diskutierten wir immer wieder die Annahme, dass das Selbst bei der traditionellen Erleuchtung erhalten bleibt. Das war revolutionär und stellte die spirituelle Suche auf den Kopf: Im Buddhismus wird die Auffassung von Anatta beziehungsweise Nicht-Selbst gelehrt. Demnach existiert kein permanentes, unveränderliches Selbst und nur die Identifikation mit den sich verändernden physischen und psychischen Bestandteilen, den Skandhas, erschafft die Illusion eines Selbst und führt damit zum Leiden im Daseinskreislauf. Erst das Erlangen von Nirwana durch Erleuchtung kann diesen Kreislauf und die Illusion beenden.
Wie ich Jason (mein damaliger Lehrer) verstanden hatte, lautete ein anderes Argument des Buddhismus, dass das Selbst nicht real oder beständig sein kann, weil es sich ständig wandelt. Aber auch ein Fluss, der sich andauernd veränderte, war real, wie Jason betonte. Unbeständigkeit bedeutete somit nicht Unwirklichkeit! Das war für mich ein neuer Zusammenhang, den ich so noch nicht gesehen hatte. Da ich viele Jahre lang Anhänger der Advaita-Vedanta-Lehre war, machte ich mir bald meine Gedanken über deren Sichtweise zum Selbst. Dies war nicht einfach, da meine Satsang-Lehrer – im Gegensatz zu buddhistischen Lehrern – fast nie über die Grundlagen, Ziele oder Methoden von Advaita geredet hatten.

In der Advaita-Tradition gilt der Verstand mit seiner Aktivität als Ursache aller Probleme, als das grundlegende Hindernis zur Erkenntnis. Daher wird die Diskussion über einen richtigen oder falschen Weg als Zeitverschwendung angesehen, weil sie der Erkenntnis im Wege stehen soll, dass jeder Weg nur eine Aktivität des Verstandes sei. Manche Lehrer treffen zwar die Unterscheidung, dass der „arbeitende Verstand“ zum Überleben notwendig wäre und nur der „denkende Verstand“ das Problem darstellen würde. Dies ändert jedoch grundsätzlich nichts an der negativen Einstellung dem Verstand gegenüber. Das philosophische Selbstverständnis von Advaita besteht folglich darin, dass es sich selbst gar nicht als Philosophie oder Lehre begreift, sondern vielmehr als eine „mentale Krücke“, die sich durch die Erkenntnis der Sinnlosigkeit jeder Theorie selbst überflüssig machen und aufheben würde. Ramana Maharshi verglich spirituelle Konzepte mit vergänglichen Werkzeugen: Man verwende einen Dorn, um einen anderen Dorn im Fuß zu entfernen. Und Poonja äußerte sich so, dass die wahre Lehre keine Spur in der Erinnerung hinterlasse und es sie daher auch nicht gebe.

Es wird auch deswegen nicht über die Grundlagen von Advaita diskutiert, weil es gemäß dieser Lehre kein persönliches Selbst oder Ego gibt, das über einen freien Willen und individuelle Handlungsmöglichkeiten verfügen würde. Das Selbst wird – ähnlich wie im Buddhismus – als fiktives Ergebnis der gedanklichen Aktivität angesehen und soll in Wirklichkeit eine unpersönliche Manifestation der Quelle beziehungsweise des Nondualen darstellen. Unter diesen Voraussetzungen macht es natürlich keinen Sinn, sich über einzelne Methoden oder gar über die Prämissen einer Lehre zu unterhalten. Wenn alles von selbst geschehen soll, entfällt per se die Notwendigkeit, sich mit den Motiven für sein Handeln auseinanderzusetzen.
Die geringe Wertschätzung für den Verstand äußert sich auch darin, dass sich die meisten Anhänger viel zu unkritisch verhalten. Keine Fragen zu stellen, gilt vielen als Zeichen inneren Fortschritts. Auf diese Weise glauben sie zum Ausdruck zu bringen, dass die Befreiung jenseits des Verstandes liege. Vielen Anhängern reicht es aus, die Energie der Lehrerin oder des Lehrers zu spüren, mit ihr oder ihm in Stille zu sitzen und irgendwie auf Einsicht oder Erleuchtung zu hoffen. Das kann dazu führen, dass sie jahrelang bei bestimmten Lehrern bleiben, ohne eine klare Vorstellung über den Weg und das Ziel. Damit gleichen sie Urlaubern, die mit Koffern am Flughafen erscheinen und sich in ein beliebiges Flugzeug setzen lassen, ohne zu wissen, wohin die Reise geht.

Selbst wenn sich ein Lehrer autoritär oder egozentrisch verhält, wird dies von seinen Anhängern nicht hinterfragt, weil sie ihren Lehrer nicht als normalen Menschen mit Schattenaspekten betrachten, sondern als reinen Ausdruck des Nondualen oder des Göttlichen Seins. Wenn umgekehrt auch der Lehrer annimmt, dass sein Handeln nicht mehr von seinem Schatten bestimmt ist, kann er jedem Antrieb im Inneren unmittelbar folgen, ohne sich mit den Motiven und Folgen der eigenen Handlung auseinandersetzen zu müssen. Entsprechende Situationen habe ich mehrfach selbst erlebt.
Die Annahmen, dass es kein Selbst mit einem freien Willen gebe, dass der Verstand der Erkenntnis grundsätzlich im Wege stehe und der Lehrer, die Lehrerin ein unfehlbarer Ausdruck des Göttlichen Seins darstelle, sind meiner Meinung verantwortlich dafür, dass eine Gemeinschaft davon ausgehen kann, über die Grundlagen der eigenen Praxis nicht diskutieren zu müssen und bereits im Besitz der Wahrheit zu sein.

Vor diesem Hintergrund ist es für mich aufschlussreich, aber inkonsequent, wenn Advaita-Lehrer Argumente für die Nicht-Existenz des Selbst anführen. So habe ich mehrfach erlebt, dass Lehrer ihre Anhänger nach innen führten und sie nach einem Ich forschen ließen. Wenn die Anhänger irgendwann antworteten, dass sie kein Ich finden könnten, folgerte der Lehrer oder die Lehrerin, dass sie nun die Wahrheit gefunden hätten. Meiner Meinung nach besagt jedoch der Umstand, dass der Beobachter sich nicht selbst sehen oder abgrenzen kann, nichts über seine Existenz, sondern nur über seine Wahrnehmungsrichtung. Ebenso wenig wie ein Auge sich erblicken kann, ist das Selbst in der Lage, sich zu sehen oder mental abzugrenzen. Der Ursprung des Selbst ist ein Mysterium, aber keine Illusion, wie sich Jason geäußert hatte.

Ein anderes bekanntes Argument hatte ich zum ersten Mal bei Jiddu Krishnamurti gelesen: Demnach soll das Ich nur als Gedanke existieren. Mit der Erkenntnis, dass Gedanken nur die Wirklichkeit abbilden, werde sich auch das Ich als gedankliches Konzept ohne eigene Substanz offenbaren. Aber auch hierzu habe ich in meiner Zeit bei Mike eine andere Erklärung gefunden: Im Verstand existiert zwar ein mentales Selbstbild, mit dem eine zu starre Identifikation beendet werden kann; aber jenseits dieser Projektion kommt dem individuellen Bewusstsein eine eigene, wesenhafte Realität zu.

Bei Ramesh Balsekar habe ich ein für einen Advaita-Lehrer ungewöhnliches Argument gefunden. Ramesh führt in seinem Buch Wen kümmert’s als Beleg für die Nichtexistenz des Selbst an, dass wir unsere Handlungen nicht kontrollieren könnten, weil sie spontan ablaufen würden. Wenn wir dies erkannt hätten, würden wir auch sehen, dass wir keinen freien Willen besäßen. Auch wenn ich Ramesh wegen seiner Klarheit schätze, bin ich anderer Meinung. Da die gewünschten Ergebnisse unserer Handlungen von einer Vielzahl äußerer Umstände abhängen, auf die man keinen Einfluss hat, trifft es in vielen Fällen zu, dass etwas anderes geschieht, als beabsichtigt. Gar nicht so selten tritt das angestrebte Ergebnis jedoch tatsächlich ein! Demnach kann man mit seinen Entscheidungen durchaus bestimmte Handlungen planen und oft auch umsetzen. Meiner Meinung nach entstammt die Vorstellung, keinen freien Willen zu besitzen, vielmehr Erfahrungen aus der eigenen Kindheit als unserer menschlichen Natur. Als wir uns an die Realität der Eltern angepasst haben, entstanden konditionierte Verhaltensmuster, die häufig von selbst und automatisch ablaufen. Die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden, wurde dadurch eingeschränkt und entzog sich unserem Bewusstsein. Deswegen kann auf die Frage, ob es einen freien Willen gibt, mit dem Verstand keine Antwort gefunden werden. Der Verstand erkennt nur die bewussten, nicht jedoch die unbewussten Aspekte.

Sicherlich lassen sich weitere Argumente für die Nichtexistenz des Selbst anführen und diskutieren. Meiner Meinung nach ist die Aussage der Nichtexistenz des Selbst jedoch bereits in sich zutiefst widersprüchlich. Denn wie sollte jemand, der als Individuum nicht existiert, in der Lage sein, überhaupt eine wahre Aussage zu treffen? Er oder sie könnte lediglich feststellen, nicht zu wissen, ob er oder sie als Individuum existiert. Alles Weitere wäre dann relativ und unbestimmt. Die Fähigkeit, unterschiedliche Positionen über die eigene Existenz zu vergleichen und zu dem Ergebnis zu kommen, als Individuum nicht zu existieren, setzt gerade eine dauerhafte, sich selbst bestätigende Individualität voraus!

Für mich sind dies überzeugende Argumente. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass sich aus Sicht von Advaita die Quelle unmittelbar im erwachten Menschen äußern und das entsprechende Wissen unverfälscht und widerspruchsfrei bereitstellen soll. Aus dieser Perspektive sind meine Argumente lediglich Ausdruck eines unerleuchteten oder verwirrten Verstandes, der sich im Widerstand befindet. Da es sich bei Advaita um ein geschlossenes Denksystem handelt, das sich immer als „wahr“ beziehungsweise in Übereinstimmung mit seinen Annahmen darstellen lässt, kann es mit rationalen Mitteln nicht widerlegt werden. Jede Handlung lässt sich so interpretieren, dass sie entweder aus der unpersönlichen Quelle oder dem freien Willen eines Menschen stammt. Daraus resultieren gegensätzliche Schlussfolgerungen und Konsequenzen über das Leben und das eigene Selbst.
Aber alleine die Tatsache, dass es möglich ist, spirituelle Zusammenhänge auch im Hinblick auf die Existenz eines realen Selbst zu beschreiben, bedeutet, dass es sich bei der Advaita-Lehre um ein Paradigma handelt, um ein Weltbild, das auf bestimmten Annahmen und Schlussfolgerungen basiert, und nicht um die Wahrheit an sich! Werden die grundlegenden Annahmen über das Leben verändert – das Selbst als Grundlage jeder Erfahrung –, wird die Welt auf eine vollständig andere Weise erfahren. Als ich dies zum ersten Mal erkannte, war ich sehr erleichtert. Wenn ich einen individuellen Blickwinkel einnehme, kann ich meine Handlungen wieder auf persönliche Weise erfahren.

Möglicherweise würden mir meine ehemaligen Lehrer antworten, dass es nicht um Konzepte oder Ansichten gehe – ob es nun ein Selbst gebe oder nicht –, sondern darum, alle Konzepte zu verlieren und im Leben spontan aus dem Augenblick heraus zu handeln, jenseits des Verstandes. Nur so werde sich die Wahrheit offenbaren und meine Überlegungen würden sich als theoretisch und überflüssig erweisen.

Aus meiner Sicht ist dem in zweierlei Hinsicht zu begegnen: Aus der Advaita-Lehre und Praxis leiten sich für die Anhänger in jedem Fall konkrete Einstellungen und Verhaltensweisen ab, die sich gravierend auf ihr Leben auswirken. Es macht einen großen Unterschied, ob jemand glaubt, dass er für sein Leben verantwortlich ist oder nicht. Insofern ist die kritische Betrachtung der Annahmen von Advaita notwendig und kann nicht mit dem Hinweis auf einen Zustand jenseits des Verstandes umgangen werden – ansonsten wirken die Annahmen unbewusst. Besteht jedoch Transparenz über die Grundlagen, Ziele und Methoden einer Lehre, können sich die Interessierten bewusst entscheiden, ob sie einen bestimmten Weg gehen wollen oder nicht.

Der zweite Punkt betrifft die Vorstellung eines erwachten Zustandes. Meine früheren Advaita-Lehrer sprachen nicht von Erleuchtung oder Erwachen, weil wir uns ihrer Ansicht nach bereits in unserem „natürlichen Zustand“ befinden würden und ein Streben nach einem anderen, höheren Zustand konzeptionell und widersprüchlich sei. Dies könne alleine durch Gnade erkannt oder realisiert werden. Demnach befinde sich der Mensch, der seinen natürlichen Zustand erkannt habe, jenseits des Verstandes und sei nicht mehr mit Konzepten und Ansichten identifiziert. Folglich seien seine Handlungen frei, spontan und ziellos. Dieser freie Ausdruck grenze nichts aus und schließe alles ein. Aus diesem Grund sei es nicht möglich, bestimmte Eigenschaften oder Handlungsweisen eines Erwachten zu definieren. Osho hat sich mehrfach geäußert, dass die Erleuchtung alle Konditionierungen beende. Das sind Argumente, die ich viele Jahre lang geglaubt habe.
Heute sehe ich es jedoch so, dass aus Nichtidentifikation und Konzeptfreiheit keineswegs unkonditionierte und freie Handlungen folgen. Dies wäre nur der Fall, wenn unser Verhalten dem Verstand oder Mentalkörper entspringen würde. Wenn unsere Motive und Handlungen jedoch aus einer tieferen Ebene unseres Bewusstseins stammen – dem Schatten beziehungsweise dem Ego –, dann ist dieser Schluss unzutreffend. Deswegen werden auch Menschen, die eine Erleuchtung (des Mentalkörpers) realisiert haben, weiterhin von ihren Kindheitswunden und Strategien beeinflusst, auch wenn ihnen dies nicht bewusst ist. Daraus folgt, dass Traumata und schattenbezogene Verhaltensweisen einen eigenständigen Heilungsweg erfordern. Die Erleuchtung des Mentalkörpers lüftet einen Schleier unseres Bewusstseins, dass die Welt keine Ansammlung abgrenzbarer Dinge ist, aber nicht alle Schleier.“

Dass wir unser Selbst als individuell und als wirklich ansehen und keinen Aspekt als illusionär abspalten, ist meiner Meinung nach die Voraussetzung dafür, dass wir unsere menschliche Existenz wertschätzen und unsere Seelenaspekte entfalten. Dann wird es auch möglich, sich vom Ego – das  real ist und vom Erwachen nicht berührt wird – zu differenzieren und Schritt für Schritt unser wahres Wesen zu verkörpern.

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